Eintrag 6: Don’t Thai to me? Ein kleiner Überblick über den Thai-Kambodschanischen Konflikt

Am 10. November hat Thailand das Waffenstillstandsabkommen mit Kambodscha, welches erst im Oktober unterzeichnet worden war, unilateral in Teilen ausgesetzt. Das Abkommen sollte einen jahrhundertealten Konflikt schlichten, der erst im Sommer dieses Jahres wieder einmal aufgeflammt war. Doch eine Reihe von gegenseitigen Anschuldigungen ließen den Frieden brüchig werden. Ein Zwischenfall, bei dem laut thailändischen Quellen zwei thailändische Soldaten bei einer Landminenexplosion verletzt worden seien, brachten das vorläufige Ende für das brüchige Abkommen. Diese aktuellen Entwicklungen sind Grund genug, um den Konflikt zwischen Kambodscha und Thailand unter die Lupe zu nehmen


Viele Menschen zeigen mit solchen oder ähnlichen Aufschriften Solidarität mit ihrem Heimatland. Wer wirklich den Konflikt angefangen hat, ist gar nicht so einfach zu sagen (Bildquelle: Nicolas Minke)

Im Alltag in Phnom Penh erscheint einem der Grenzkonflikt mit Thailand, der im Sommer diesen Jahres nahezu in einen Krieg eskaliert wäre, fast genauso fern, wie beim „Tagesschauen“ von einem Wohnzimmer in Deutschland aus. Die Hauptstadt Kambodschas ist weltoffen, voller Trubel und erlebt einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung. Die Grenze ist ein paar hundert Kilometer entfernt und ich fühle mich sicher, zumal die Kämpfe nach wenigen Tagen im Sommer dieses Jahres beendet wurden. Und doch gibt es manchmal Momente, in denen mir auf einmal bewusst wird, wie nahe der Konflikt den Menschen hier in Kambodscha geht. Erst kürzlich traf ich bei einer Dienstreise aufs Land einen jungen Mann, der im Sommer an der Grenze mitgekämpft hat. Er zeigte mir Videos, auf denen man seinen Kameraden am Maschinengewehr sieht, im Hintergrund werden Raketen in die Nacht geschossen. Der Mann ist eigentlich Polizist und wurde deswegen eingezogen, denn die kambodschanische Armee ist sehr klein. Nach diesen Erlebnissen möchte er seinen Beruf bei der Polizei jedoch an den Nagel hängen.

Dann wiederum treffe ich auf eine Reihe von Kindern, die mir erzählen, dass sie Soldaten werden wollen, um ihr Land zu schützen – und um möglichst viele Thais zu töten. Mein Kollege fragt die Kinder, wo sie sich denn über den Konflikt informieren. Sie sagen: „auf Facebook.“

Der Spruch „Don’t Thai to me“, ist emblematisch für diesen Konflikt geworden und ziert nun Tuktuks, Ladenfronten und T-Shirts. „Don’t Thai to me“ ist ein Wortspiel mit dem Satz „Don’t lie to me“, etwas, was viele Kambodschaner Thailand (und umgekehrt Thais Kambodschanern wahrscheinlich auch) vorwerfen. 

Ich sehe ein Tuktuk an mir vorbeifahren, an dem eine durchgestrichene Thailandflagge zu sehen ist, darunter steht: „Thailand attacked first, Cambodia wants peace.“

Wirklich? Ist das so einfach? Die allermeisten Kambodschaner, die ich getroffen habe, wollen wirklich Frieden. Sie wissen, dass ihr aufstrebendes Land es sich nicht leisten kann erneut in einen Krieg reingezogen zu werden.

Die Älteren erinnern sich vielleicht noch an die Zeit der Roten Khmer und der jahrzehntelangen Bürgerkriege, die etwa ein Viertel der Landesbevölkerung das Leben gekostet hat und das Land meilenweit in seiner Entwicklung zurückgeworfen hat. Viele Kambodschaner sagen mir: „Warum sollte Kambodscha Thailand angreifen? Thailands Bevölkerung ist doch viel größer, die Wirtschaft agiler und das Militär deutlich stärker.“

Bei aller Sympathie für das Land, in dem ich ein Jahr lang Gast sein darf und in dem mich die Menschen so herzlich aufnehmen, ist mir bewusst, dass ich nur eine Seite des Konflikts kenne. Wie würde eine Person aus Bangkok über dasselbe Thema denken? Ich kann es nur erahnen. Ich ahne auch, dass der Konflikt deutlich komplexer und älter ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Ich frage mich:



Was sind die Ursachen dieses Konflikts?

Im Folgenden versuche ich einen kleinen Überblick über die Geschichte dieses Konflikts zu geben. Ich bin weder Historiker noch Politikwissenschaftler, weshalb die folgenden Ausführungen möglicherweise nicht zu 100% korrekt sind oder bestimmte Informationen zu kurz kommen. Der Konflikt ist komplex und alles, was ich hier schreibe, habe ich mir selber angelesen, bzw. im Austausch mit anderen erfahren. Ich versuche ausgewogen zu berichten, bin mir aber bewusst, dass ich, weil ich in Kambodscha lebe und noch nie in Thailand war, nicht ganz unbefangen bin. Ich ermutige jeden, den das Thema interessiert, sich weiter zu informieren. Sucht euch eure Quellen und bildet eure eigene Meinung!

Wer nichts mit Südostasien am Hut hat und nur die tagesaktuellen Nachrichten verfolgt, könnte meinen, dass der Konflikt zwischen Thailand und Kambodscha neu und relativ überraschend ist. Ehrlich gesagt wusste auch ich bis zu diesem Jahr nichts über dieses Thema.

Tatsächlich handelt es sich aber um eine jahrhundertealte Fehde, die bis in die Zeit des Angkor Reiches zurückreicht. Das Angkor Reich war ein kambodschanisches Königreich, welches vom 9. bis 14. Jahrhundert existierte und über mehrere Jahrhunderte die größte Kraft in der Region war. In seiner Blütezeit dehnte sich das Angkor Reich nicht nur über das Gebiet des heutigen Kambodschas aus, sondern erstreckte sich auch über weite Teile der heutigen Länder Vietnam, Laos und Thailand. Auch heute sind viele Kambodschaner stolz auf die zahlreichen Tempel, die ihre Vorfahren in dieser Zeit errichtet hatten, der bekannteste dieser Tempel ist natürlich Angkor Wat.

Im 12. Jahrhundert begannen die frühen Thais aus der Region Yunnan, welche im heutigen China liegt, nach Südostasien zu migrieren und fanden oftmals im Gebiet des Khmer Reiches als Einwanderer ein neues Zuhause. Vermutlich wurde diese Wanderungsbewegung durch die Ausweitung des mongolischen Reiches unter Khublai Khan, einem Nachfahren Chinggis Khans, ausgelöst. Während die verschiedenen Kulturen anfangs halbwegs harmonisch zusammenlebten, begannen die Thais nach einiger Zeit eigene Reiche zu gründen was zu Konflikten mit den Khmers führte.

 

Angkor Wat – das größte religiöse Monument der Welt wurde im 12. Jahrhundert in der Hauptstadt des Angkor-Reiches errichtet, bis heute ist es ein zentraler Anker der kambodschanischen Identität und ist sogar auf der Landesflagge zu finden (Bildquelle: Nicolas Minke)

Im frühen 13. Jahrhundert war unter dem letzten großen König Jayavarman VII der Zenit des Khmer-Reiches erreicht. Das Königreich war zu der Zeit eine hoch entwickelte Zivilisation mit einer gut ausgebauten Infrastruktur und einer Hauptstadt, welche mit einer Million Einwohnern die damals weltgrößte Stadt war. Dann begann der Stern des kambodschanischen Reiches zu sinken. Umweltprobleme, wie Bodenerosion und sinkende Grundwasserspiegel als Folge von Entwaldung stellten das Reich vor wachsende Probleme. Das hochentwickelte Kanalsystem, dass die Millionenmetropole Angkor mit Wasser versorgte, wurde immer maroder. Auch war die Bevölkerung vermutlich nicht mehr bereit dem König bedingungslos zu folgen. Der Erfolg der früheren Angkor-Könige hing auch damit zusammen, dass sie sich als Gottkönige darstellten um sich so Respekt im Volk zu sichern.

Hinzu kamen die Angriffe anderer Königreiche. Zwar war das kambodschanische Reich auch zuvor schon, z.B. von den Cham angegriffen worden, doch die Angriffe konnten stets abgewehrt werden. Nun konnte sich aber Kambodscha nicht mehr gegen das neue Königreich Siam, ein Vorgänger des heutigen Thailands, wehren. Die Siamesen (also Thais) waren erst einige Jahrzehnte zuvor in das kambodschanische Königreich eingewandert, begannen aber nun in einigen Provinzen selber Macht auszuüben und eigene Reiche, wie das Königreich Siam zu gründen. Der erste Angriff Siams auf die Hauptstadt des Khmer Königreiches im Jahr 1353 konnte zwar noch abgewehrt werden, doch weitere Angriffe folgten. 1432 wurde dann die Hauptstadt des kambodschanischen Reiches in die Gegend um Phnom Penh verlegt.

Die nächsten Jahrhunderte waren von Kriegen zwischen Siam (also Thailand), Vietnam und Kambodscha geprägt, bei denen Kambodscha stets (mit wenigen Ausnahmen) als Verlierer herausging. Nach und nach verlor das ehemalige Großreich immer mehr Gebiete. Große Regionen im Westen des Reiches gingen an Siam, die Gegend um die heutige Ho-Chi-Minh Stadt an Vietnam. Zeitweise gehörten selbst die westlichen Gegenden des heutigen Kambodschas, darunter auch die Stadt Siem Reap, wo früher die Hauptstadt des Angkor-Königreiches stand, zu Siam.

Dass Kambodscha heute existiert liegt zumindest teilweise am Kolonialismus. Das koloniale Erbe befeuert aber auch die aktuellen Grenzkonflikte Kambodschas. Im 19 Jahrhundert sicherte Frankreich dem kambodschanischen Königshaus seine Unterstützung zu, im Gegenzug wollte Frankreich natürlich seinen Einfluss in Südostasien stärken. So wurde Kambodscha 1863 zur Kolonie. Der König blieb im Amt, verlor aber an politischer Macht. Frankreich baute im Land Infrastruktur auf, von der die kambodschanische Bevölkerung allerdings kaum was hatte. Außerdem wurde das Land wirtschaftlich ausgebeutet. Wie freiwillig die Entscheidung des kambodschanischen Königs war, ist strittig. Allerdings hatte die Kolonialzeit möglicherweise Kambodschas Existenz bewahrt.

Kambodscha, welches zwischen Siam und Vietnam zunehmend zerrieben wurde, blieb letztendlich durch die französische Fremdherrschaft als Nation erhalten. Nicht nur das: im Franco-Siamesischen Vertrag von 1907 wurden mehrere Provinzen, darunter auch Siem Reap an das französische Protektorat übergeben. Im Gegenzug erhielt Siam zwei kambodschanische Provinzen. Somit befanden sich zahlreiche historische Stätten des Angkor Reiches wieder in Kambodscha. Andererseits ist der Vertrag aus thailändischer Sicht eine ungerechte koloniale Grenzziehung. Siam musste Gebietsverluste akzeptieren um seine Unabhängigkeit zu bewahren.

So ist es auch kein Wunder, dass der Vertrag von 1907 den aktuellen Thai-Kambodschanischen Konflikt befeuert. In der Regel konzentrieren sich die Streitigkeiten aber auf Detailfragen. Zwischen dem Vertrag, welcher von Siam unterschrieben wurde, und der neuen offiziellen Landkarte Kambodschas gibt es einige Unterschiede im Grenzverlauf. Die 1907 von Frankreich angefertigte offizielle Landkarte zeichnet den gesamten Tempelkomplex auf kambodschanischem Territorium ein. Laut dem Abkommen aus dem Jahr 1907 sollte der nördliche Teil des Tempelkomplexes Siam gehören. Die Landkarte aus dem Jahr 1907, bei der der ganze Tempel Kambodscha gehört, wurde von Siam weder offiziell akzeptiert noch angefochten.

Erst als sich Frankreich 1953 aus Kambodscha zurückzog und 1954 thailändische Truppen den gesamten Tempelkomplex unter Kontrolle bringen wollten, lösten die vertraglichen Ungenauigkeiten fast einen Krieg aus.

Kambodscha reichte eine Beschwerde beim Internationalen Gerichtshof (IGH) ein, welcher 1954 und auch 2013 zugunsten Kambodschas entschied. Thailand erkennt die Entscheidung bis heute nicht an und pocht auf eine bilaterale Lösung.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im 21. Jahrhundert waren die Tempel Auslöser und Austragungsort zahlreicher Konfrontationen. Vor den Ereignissen dieses Jahres fand 2008 und 2011 die letzte Eskalation statt, nachdem Kambodscha 2008 die umstrittenen Preah Vihear Tempel als UNESCO-Weltkulturerbe registrieren ließ. Nachdem Kambodscha wieder Beschwerde beim Internationalen Gerichtshof eingereicht hatte, entschied dieser 2013, wie zuvor 1954, zugunsten Kambodschas. Thailand erkennt auch diese Entscheidung bis zum heutigen Tage nicht an und möchte das Problem weiterhin bilateral lösen, also ohne externe Parteien. Das kommt für das kleinere und wirtschaftlich schwächere Kambodscha aufgrund des Machtgefälles zugunsten Thailands nicht in Frage.



Was ist dieses Jahr passiert?

Im Sommer dieses Jahres kam es wieder zu stärkeren Auseinandersetzungen an der Grenze, worüber auch international berichtet wurde. Über Monate hinweg wurde eine anti-Thai bzw. anti-Khmer Rhetorik in den jeweiligen Ländern befeuert und verschiedene Anschuldigungen gemacht. Deshalb ist es gar nicht so einfach, den Anfang dieser Eskalation festzustellen. Genauso wenig bringt es sich zu fragen, wer den ersten Schuss getätigt hat. Einerseits, wegen der strittigen Frage, wann denn nun der Konflikt begonnen hat. Andererseits, weil jede Seite einfach behauptet, die andere habe angefangen.

Eine wichtige Eskalationsstufe war jedenfalls der 28. Mai, an dem während eines Schusswechsels im Smaragddreieck an der Grenze zwischen Thailand, Kambodscha und Laos ein kambodschanischer Soldat getötet wurde. Die kambodschanische Regierung spricht von einem einem „unprovozierten Akt der Aggression“ und einer Verletzung Kambodschas Souveränität und territorialen Integrität. Im Statement der thailändischen Regierung wird hingegen davon gesprochen, dass die Thai Soldaten sich gegen einen kambodschanischen Angriff verteidigt hätten.

Die Lage an der Grenze blieb zunächst stabil, doch die Rhetorik verschärfte sich. In den Wochen darauf verbot Kambodschas Regierung den Import von Lebensmitteln, Treibstoff und anderen Produkten, während Thailand die Landgrenzen schloss und Internet und Stromverbindungen zu Kambodscha kappte.

Ein Versuch der damaligen thailändischen Premierministerin Paetongtarn Shinawatra, den Konflikt in einem privaten Telefonat mit dem kambodschanischen Ex-Premier Hun Sen (der aber weiterhin viel Macht besitzt) zu schlichten, schlug fehl. Hun Sen veröffentlichte eine Audioaufnahme des vertraulichen Gesprächs und kündigte damit auf dramatische Weise eine jahrzehntealte Freundschaft zwischen den Familien der Hun und denen der Shinawatras. Thaksim Shinawatra, der Vater Paetongtarns, war in den frühen 2000ern thailändischer Premier, ging aber nach Korruptionsvorwürfen ins kambodschanische Exil. Das veröffentlichte Telefonat stellte einen massiven Vertrauensbruch dar und untergrub Shinawatras Bemühungen zu deeskalieren. Mit seiner Aktion wollte Hun Sen vermutlich Thailands Innenpolitik destabilisieren, was auch funktionierte. In dem Anruf bezeichnete Shinawatra Hun Sen als „Onkel“ (was in Südostasien eigentlich ein gängiger Titel ist, mit dem man einem älteren Gesprächspartner Respekt entgegenbringt) und kritisierte das thailändische Militär. Außerdem meinte sie: „wenn Hun Sen etwas möchte, soll er es mir einfach sagen und ich werde mich darum kümmern.“ Auf das veröffentlichte Telefonat folgte ein Aufschrei: nationalistische Proteste in Thailand und das Wegbrechen eines wichtigen Koalitionspartners. Paetongtarn Shinawatra wurde vom Verfassungsgericht suspendiert und schließlich des Amtes enthoben. Das „Leaken“ des Telefonats hat nicht nur eine Regierungskrise ausgelöst, sondern auch das Misstrauen Thailands gegenüber Kambodscha verstärkt.

Ende Juli dieses Jahres mündete die Eskalationsspirale schließlich in einen offenen Konflikt. Die Kämpfe kosteten knapp 80 Menschen das Leben, darunter auch Zivilisten.

Am 23. Juli wurden fünf thailändische Grenzsoldaten durch eine Landmine verletzt. Thailand beschuldigte Kambodscha, neue Minen gelegt zu haben. Kambodscha bestreitet das und meint, es seien alte Minen von vorherigen Konflikten ausgelöst worden. Am nächsten Tag (24. Juli) kam es zu Kämpfen nahe des Ta Muen Thom Tempels, welche sich im Verlauf der nächsten Tage auf zwölf Orte an der Grenze ausweiteten, darunter auch der Preah Vihear Tempel. Auf beiden Seiten wurden Soldaten, aber auch Zivilisten getötet. Beschossen wurden unter anderem ein Krankenhaus und eine Tankstelle in Thailand, sowie Schulen in Kambodscha. Eingesetzt wurden Maschinengewehre, Artillerie und Raketen. Die kambodschanische Seite griff z.T. auf alte sowjetische Militärtechnik zurück, während Thailand auch Drohnen und moderne Kampfjets einsetzte.

Karte von der Konfliktsituation 2025 – Bildquelle: Tan Grace, CNA

Verschiedene Staaten, darunter die USA, Malaysia und China, appellierten daran zu deeskalieren. Das ASEAN-Bündnis forderte einen Waffenstillstand. Am 25. Juli wurde eine UN Sitzung einberufen. Am 26. Juli verkündete Donald Trump, der sich auch für ein Ende des Konflikts einsetzte, dass beide Seiten an einem Waffenstillstandsabkommen arbeiteten. Am 28. Juli wurde schließlich in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, welches um Mitternacht in Kraft trat.

Damit wurde ein schnell eskalierender Konflikt eingefroren, der 46 kambodschanische und 16 thailändische Soldaten, sowie 8 kambodschanische und 17 thailändische Zivilisten das Leben gekostet hatte. Außerdem hatten in dem Konflikt zahlreiche weitere Personen, Soldaten wie Zivilisten, Verletzungen erlitten. Zudem befinden sich einige Khmer Soldaten bis heute in thailändischer Gefangenschaft.

Nicht zu unterschätzen sind auch die Kosten für die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft, die durch die Evakuierung von hunderttausenden Zivilisten auf beiden Seiten entstanden sind. Abgesehen von dem finanziellem Schaden spielen auch Folgen von psychischer und physischer Gewalt eine Rolle. Erst kürzlich gab es in kambodschanischen Medien Berichte über kambodschanische Frauen, die von thailändischen Soldaten vergewaltigt worden seien, wobei Thailand derartige Ereignisse dementiert.

Die Gräben zwischen Kambodscha und Thailand sind tief – und das obwohl (oder vielleicht weil) sie so viele kulturelle Gemeinsamkeiten haben. Diesen Sommer sind Kambodscha und Thailand knapp einem Krieg entkommen, den sich keines der Länder leisten kann. Kambodscha befindet sich in einem rasanten Aufschwung, der aber durch einen Krieg gefährdet wäre. Thailand hat sich in den letzten Jahrzehnten einen relativen Wohlstand erarbeitet und hat auch kein Interesse daran, diesen aufs Spiel zu setzen. Thailand hat zwar das stärkere Militär, doch seine Wirtschaft ist in hohem Maße vom Tourismus abhängig. Ein Krieg würde diesem Sektor massiven Schaden zufügen.

Bis der Waffenstillstand in Kraft trat, war trotzdem unklar, wie sich die Situation entwickeln würde. In einer monatelangen Eskalationsspirale hatten die beiden Länder Kräfte heraufbeschworen, die sie nicht mehr kontrollieren konnten. Wer weiß, wie die Länder heute aussähen, hätten sich nicht so viele Staaten für einen Waffenstillstand eingesetzt. Besonders wichtig sind hier die Bemühungen der ASEAN und des malaysischen Premierministers Anwar Ibrahim, der dieses Jahr die Schirmherrschaft des Bündnisses innehat. Der malaysische Premier nahm eine aktive Rolle bei den Verhandlungen ein und es ist kein Zufall, dass das Waffenstillstandsabkommen in der Hauptstadt Malaysias Kuala Lumpur unterzeichnet wurde. Auch Druck von Seiten Chinas und den USA half dabei den Konflikt zu beenden. So drohte Trump mit hohen Zöllen, sollte der Konflikt fortbestehen.

Weil die Friedensbemühungen erfolgreich waren, betragen die Zölle auf Kambodscha und Thailand nun „nur“ 19%, deutlich weniger als z.B. die 40%, mit denen das benachbarte Laos leben muss.

Der Frieden ist aber wackelig, Schon am Tag, an dem das erste Waffenstillstandsabkommen in Kraft trat, beschuldigte Thailand Kambodscha die Vertragskonditionen gebrochen zu haben. In den nächsten Monaten gab es mehrere weitere Vorfälle, bei denen Thai Soldaten auf Minen getreten sein sollen. Laut der thailändischen Regierung habe Kambodscha diese Minen nach Abschluss der Verhandlungen auf der thailändischen Seite verlegt. Laut der kambodschanischen Seite handele es sich entweder um alte Minen, z.B. aus der Zeit der Roten Khmer, oder um Vorfälle, die auf kambodschanischen Boden stattgefunden hätten. Durch letzteres hätte nicht Kambodscha, sondern Thailand das Abkommen gebrochen.

Außerdem beschuldigt Kambodscha Thailand, eigentlich kambodschanisches Territorium annektiert und mit Stacheldraht abgetrennt zu haben. In kambodschanischen Medien gibt es Videos von Dorfbewohnern, welche laut diesen Quellen nicht mehr in ihre Dörfer zurückkönnen, weil Thailand sie abgetrennt habe.

Kambodscha und Thailand unterzeichnen am 26. Oktober 2025 ein Friedensabkommen, Bildquelle: Mohd Rasfan/Pool/AFP

Am 26. Oktober wurde trotz dieser Anschuldigungen in Kuala Lumpur ein Friedensabkommen geschlossen. Die gegenseitigen Anschuldigungen gingen aber weiter und schon am 10 November wurde die Umsetzung des Friedensabkommens von Thailand suspendiert, nachdem ein thailändischer Soldat nahe der Grenze von einer Mine verletzt worden war. Auch hier ist es unklar, ob es sich um alte oder neue Minen handelt. In einem Schusswechsel wurde kurz darauf ein kambodschanischer Zivilist getötet und wieder will es keiner gewesen sein. Abgesehen davon ist die Lage aber weitgehend ruhig und sowohl das ASEAN-Bündnis, als auch die USA versuchen zu deeskalieren. ASEAN mit klassischer Diplomatie, Trump mit Zolldrohungen.

Der Krieg der Wörter, in Pressemitteilungen, aber vor allem auch auf Social Media geht weiter. Die Gräben, die in den letzten Monaten gegraben wurden, sitzen im Moment tief.

So kommt es dazu, dass viele Kambodschaner, die ich kenne, negativ gegenüber Thailand eingestellt sind, Thai Produkte und Thai Restaurants boykottieren. Manche, aber nicht viele, setzen auch auf Facebook Posts ab. Meistens geht es einfach um Solidarität mit dem Heimatland, was ich verständlich finde. Leider findet sich in Facebook- und YouTube-Kommentarspalten viel gegenseitiger Hass. Abgesehen von Beleidigungen und schwer überprüfbaren Informationen, kann man aber auch bei dem ein oder anderem Neologismus schmunzeln. Während Thailand oft (wegen seiner Gebietsansprüche) als „Thiefland“ bezeichnet wird, nennen nationalistische Thais Kambodscha wahlweise „Scambodia“ (wegen der Scam Zenter, aber das ist ein anderes Thema) oder „Claimbodia“ (selbes Motiv, wie bei „Thiefland“). Während die Erwachsenen gefestigt sind und auch friedlichere Zeiten mit dem Nachbarland kennen, kann ich mir vorstellen, dass insbesondere Kinder, die zu viel Zeit online verbringen, sich radikalisieren könnten. So wie es z.B. mit den Kindern, die ich am Anfang dieses Artikels erwähnt habe, der Fall ist. Obwohl ihnen persönlich wahrscheinlich noch nie ein Thai etwas angetan hat, äußern Sie das Bedürfnis „alle Thais zu töten.“ Ich nehme an, dass es auf der anderen Seite ähnlich aussieht. Zumindest gibt es Berichte von zehntausenden Kambodschanern, die in Thailand gearbeitet und gelebt haben und nun in ihr Heimatland zurückkehren.



Achtung, hier kommt meine persönliche Meinung:

Ich bin froh, dass das nicht mein Konflikt ist und dass ich als Ausländer neutral auftreten kann. Obwohl ich mich in den vergangenen Monaten intensiv mit der Geschichte Kambodschas auseinandergesetzt habe, ist es mir unverständlich, wie man aufgrund lange zurückliegender Grenzziehungen kriegerische Auseinandersetzungen beginnen kann. Ich kann und will nicht für eine der beiden Seiten Partei ergreifen, weil jeder der Seiten auf eine Weise mitschuldig ist. Ist das Problem, dass die Siamesen im 15 Jahrhundert Angkor eingenommen haben, oder dass Frankreich Thailand 1907 gezwungen hat diese Gebiete an Kambodscha abzutreten. Ist das Problem Thailand, welches die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshof nicht anerkennt oder Kambodscha, welches keine rein bilaterale Lösung möchte. Oder sind das Problem nicht eher Politiker und Militärs auf beiden Seiten, die mit diesem Konflikt Nationalismus schüren und so von internen Problemen ablenken wollen? Eins ist für mich klar: Kambodscha und Thailand brauchen Frieden und dafür braucht es Kompromisse, sowie eine gegenseitige Anerkennung von bestimmten Interessen. Irgendwie haben es Deutschland und Frankreich doch auch geschafft ihre jahrhundertealte Erbfeindschaft zu überwinden.


Nicolas Minke, November 2025

 

Anmerkung zu den jüngsten Enwicklungen (Stand 13.12.2025):

Der Konflikt ist anscheinend noch lange nicht vorbei. Erst am 08. Dezember führte Thailand erneut Luftschläge gegen Kambodscha durch. Thailand begründet dies durch vorherige Kambodschanische Aggression, die zum Tod thailändischer Soldaten geführt habe, Kambodscha verneint dies. In den letzten Tagen kam es entlang der Grenze zu Gefechten, bei denen Soldaten und Zivilisten getötet wurden. Etwa 600.000 Menschen sind auf beiden Seiten zum zweiten Mal in diesem Jahr zur Flucht gezwungen. Das Auswärtige Amt hat für die Grenzregionen eine Teilreisewarnung bekanntgegeben. Im Moment ist es in Phnom Penh zum Glück ruhig, allerdings liegt auch hier eine Anspannung in der Luft. Viele Kambodschaner sind besorgt über die aktuelle Situation. Auf der Straße sah ich schon mehrmals, wie Spenden für die Soldaten gesammelt werden. Der Konflikt ist zurzeit am Eskalieren und niemand weiß, wie sich die Situation in Zukunft entwickeln wird. In meinem Umfeld sind alle Kambodschaner sehr besorgt über die aktuellen Entwicklungen. 

Junge Kambodschaner sammeln Spenden in Form von Essen oder Kleidung für die Soldaten (Photo: Privat, vom 11.12.2025)


Ansonsten noch als Lesetipp, falls ihr ganz tief in die Geschichte Kambodschas eintauchen wollt: Chandler, David. A History of Cambodia


Meine Quellen:

https://cambodiatribunal.org/history/cambodian-history/

https://spice.fsi.stanford.edu/docs/thailand_and_cambodia_the_battle_for_preah_vihear

https://asiasociety.org/education/cambodia-historical-overview

https://en.wikipedia.org/wiki/Franco-Siamese_Treaty_of_1907#/media/File:Franco-Siamese-Treaty-of-1907-FR.jpg

https://www.channelnewsasia.com/asia/thailand-pm-suspended-paetongtarn-shinawatra-cambodia-hun-sen-5191676

https://www.channelnewsasia.com/asia/thailand-cambodia-diplomacy-hun-sen-paetongtarn-shinawatra-5207616

https://www.dw.com/en/thailand-pm-paetongtarn-shinawatra-sacked-over-cambodia-call/a-73802515

https://www.channelnewsasia.com/asia/thailand-cambodia-cna-explains-border-clash-history-5256341

https://www.britannica.com/event/Thailand-Cambodia-Conflict

https://www.fortifyrights.org/tha-inv-2025-07-29/

https://www.reuters.com/world/asia-pacific/thailand-halt-implementation-ceasefire-deal-with-cambodia-will-inform-washington-2025-11-11/

https://www.theguardian.com/us-news/2025/oct/26/trump-oversees-thailand-cambodia-ceasefire-signing-as-asia-tour-gets-under-way

https://www.theguardian.com/world/2025/nov/15/us-pressures-thailand-to-recommit-to-cambodia-ceasefire-with-threat-of-tariffs

https://abcnews.go.com/US/wireStory/trump-stopped-war-preserving-ceasefire-cambodia-thailand-127542649

https://www.cd-center.org/timeline-of-cambodia-and-thailand-border-conflict/

https://www.thaigov.go.th/en/media/infographic/8862

https://www.theguardian.com/world/2025/jul/29/thailand-cambodia-ceasefire

https://www.aljazeera.com/news/2025/10/26/trump-jointly-signs-thailand-cambodia-ceasefire-agreement-at-asean-summit

https://www.channelnewsasia.com/commentary/thailand-cambodia-border-fighting-death-thaksin-shinawatra-hun-sen-snap-insight-5256031

https://www.aljazeera.com/news/2025/7/24/thai-military-reports-clash-with-cambodian-troops-at-disputed-border-area

https://edition.cnn.com/2025/07/01/asia/thailand-pm-paetongtarn-suspended-intl-hnk

https://www.bbc.com/news/articles/cdrkvy2pn87o

https://www.theguardian.com/world/2025/jul/03/thailand-cambodia-leaked-phone-call-shinawatra-dynasty-paetongtarn

https://thethaiger.com/news/national/5-more-bodies-recovered-after-deadly-gas-station-strike

https://www.channelnewsasia.com/asia/thailand-cambodia-clash-jets-and-rockets-in-deadly-border-row-5256746

https://factcheck.afp.com/doc.afp.com.68HG8CQ

https://factcheck.afp.com/doc.afp.com.66RE29E

https://thediplomat.com/2025/08/trump-cuts-tariffs-on-cambodia-and-thailand-to-19-after-border-ceasefire/

https://www.theguardian.com/world/2025/nov/15/us-pressures-thailand-to-recommit-to-cambodia-ceasefire-with-threat-of-tariffs

https://en.wikipedia.org/wiki/2025_Cambodian%E2%80%93Thai_border_crisis

https://www.aljazeera.com/news/2025/11/10/thailand-suspends-cambodia-peace-deal-after-landmine-blast

https://www.dw.com/de/thailand-und-kambodscha-grenzstreit-ohne-rasches-ende/a-74757118

https://www.smry.ai/proxy?url=https%3A%2F%2Fthediplomat.com%2F2025%2F11%2Fthailand-denies-claim-its-soldiers-gang-raped-cambodian-woman%2F

https://cambodianess.com/article/take-action-against-thai-soldiers-if-rape-evidence-emerges-expert


Chandler, David. A History of Cambodia 4th edition, 2008


Quellen zu den jüngsten Ereignissen:

https://www.theguardian.com/world/2025/dec/08/thailand-airstrikes-disputed-border-cambodia

https://www.aljazeera.com/news/2025/12/8/thailand-launches-air-raids-along-border-with-cambodia-after-deadly-clashes




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